“Swiss talk”.
Zürch’air Frühling 2020 | Interview Andrei Gavrilov
Titel: «Ich bin Wissenschaftler des musikalischen Kosmos»
Lead: Andrei Gavrilov ist ein weltbekannter Pianist.
Herr Gavrilov, Sie standen bereits auf zig namhaften Bühnen dieser Welt. Wird man mit Ihrer Erfahrung vor einem Konzert überhaupt noch nervös?
Nervös zu sein ist die natürlichste Sache der Welt, ich kenne viele berühmte Persönlichkeiten, die ihr Lampenfieber nie ganz überwinden konnten. Aber mit der richtigen Vorbereitung vergeht die Nervosität. Vor einem Auftritt verspüre ich vielmehr eine enorme Vorfreude auf das Spielen und das Publikum.
Wie bereiten Sie sich denn auf ein Konzert vor?
Die Vorbereitung beinhaltet einen mehrjährigen Prozess, der weit über das einfache Spielen des Notenblatts hinausgeht. Vielmehr muss man sich mit den kulturellen, philosophischen, psychologischen, aber auch physiologischen Aspekten eines Stücks auseinandersetzen.
Was genau beinhalten diese Aspekte?
Kulturell beispielsweise gilt es, die Epoche, in der der Komponist lebte, zu kennen und zu verstehen. Ebenso wichtig zu wissen ist, in welcher Phase seines Lebens der Künstler das Stück komponierte hat und was ihn dazu inspirierte. Auf der philosophischen und psychologischen Ebene hingegen muss man sich mit der literarischen Sprache eines Stücks befassen und verstehen, was es aussagen will. Die Musiksprache lässt sich mit der Computer- beziehungsweise Programmiersprache vergleichen: Wie ein Programmcode beinhalten wenige Zeilen eines Stücks bereits eine Unmenge an Informationen. Und letztlich kommt noch der physiologische Aspekt hinzu, womit das eigentliche Üben am Klavier und Trainieren der Motorik gemeint ist.
An einem Konzert im Dezember 2019 in Zürich wendeten Sie sich dem Publikum zu und sagten: «Jetzt wird es etwas ungewöhnlich.» Würden Sie Ihren Stil generell als ungewöhnlich bezeichnen?
Ich als Interpret sehe mich als Brücke zwischen Komponisten und Publikum. Wenn ich ankündige, dass jetzt etwas «Ungewöhnliches» kommt, dann ist dies nicht mein persönlicher Stil, sondern ich möchte die ungewöhnliche Seite des Komponisten und dessen Stück demonstrieren.
Wann haben Sie Ihre Leidenschaft für die Klaviermusik entdeckt?
Meine Mutter war eine erfolgreiche Pianistin und studierte am Moskauer Konservatorium, eine bekannte musikalische Ausbildungsstätte in Russland. Entsprechend wuchs ich umgeben von der Musik auf. Als Dreijähriger hörte ich im Radio Mozart’s «Lacrimosa», welches mich zutiefst berührte. Ohne je das Notenblatt gesehen zu haben, setzte ich mich an das Klavier meiner Mutter und begann es nachzuspielen – sehr zu der Überraschung aller.
In einem Interview haben Sie mal gesagt, dass Klavierspielen für Sie «sharing love» bedeutet, also «Liebe zu teilen». Was meinen Sie damit?
Für mich besteht der Sinn des Lebens darin, das Leben anderer zu bereichern – Glück weiterzugeben ist die Essenz der eigenen Glückseligkeit.
Haben Sie eine Muse?
Meine Liebe zur Menschheit ist meine Muse, auch wenn ich die Menschen ständig kritisiere. Aber das, was man am meisten liebt, kritisiert man auch am meisten.
1993 haben Sie sich für 8 Jahre eine Auszeit von Konzerten genommen. Auf was haben Sie sich während dieser Zeit konzentriert?
Auf einer Tournee merkte ich, dass das Leben im Rampenlicht wenig Raum für persönliche Weiterentwicklung lässt. Die grösste Falle im Musikgeschäft ist es, das Bewusstsein für die Musik zu verlieren. Ich sah es als meine Aufgabe, die Noten nicht einfach nur zu spielen, sondern sie zu verstehen. In diesen Jahren setzte ich mich daher intensiv mit allen Facetten der Musik auseinander, sei dies Psychologie, Philosophie, Poesie, Literatur, Anatomie, Kulturwissenschaften und so weiter. Ich wurde zum Wissenschaftler des musikalischen Kosmos. 2001 fing ich wieder damit an, von Zeit zu Zeit Konzerte zu geben, mit dem Ziel, meine neu gewonnenen Erkenntnisse und Ideen mit dem Publikum zu teilen.
Was wäre Ihr Wunsch an die zeitgenössische Musik?
Musik ist der Spiegel der menschlichen Seele – und was dieser Spiegel zurzeit zeigt, finde ich nicht sonderlich interessant. Dafür bin ich mir aber sicher, dass wir uns gerade am Anfang von etwas sehr Grossem befinden. Beispielsweise kann ich mir gut vorstellen, dass die Musik mit anderen Formen fusionieren wird, beispielsweise mit der cinematischen, sprich filmischen Kunst.
Seit 2001 leben Sie in der Schweiz. Was hat Sie dazu bewegt, hierhin zu ziehen?
Ich bin in Russland geboren, habe in Grossbritannien, den USA, Deutschland, Frankreich, und Italien gelebt. Ab einem gewissen Zeitpunkt entschied ich, keiner Nation mehr zugehörig sein zu wollen. Ich umarme die ganze europäische Kultur und sehe mich als Teil des Ganzen. Die Schweiz verkörpert für mich genau diese internationale Mentalität. Sie ist vielmehr als nur Schokolade, Uhren und Banken – sondern ein weltoffenes und fortschrittliches Land, quasi eine Bastei der Freiheit.
Was bedeutet denn Freiheit für Sie?
Freiheit hat viele Gesichter. Ein freier Mensch ist ein Mensch, der bewusst, aufmerksam und achtsam lebt. Innere Freiheit ist ein sich stetig weiterentwickelnder Prozess. Eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der bewusste Menschen leben und in der Meinungsfreiheit erlaubt und willkommen ist.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Ich will die Zukunft mitgestalten: Konzerte geben, aber auch in Schulen lehren und in der Politik mitreden. Ich bin mit meinen 64 Jahren erst am Anfang und starte jetzt mit Vollgas durch.
AG